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Medienkonsum und Hirnentwicklung

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«Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, wenn immer mehr Menschen ihr Gehirn nicht mehr in erster Linie dazu einsetzen, um sich in der realen Welt, in lebendigen Beziehungen mit anderen Menschen zurechtzufinden. Was geschieht im und mit dem Gehirn dieser Menschen, die in eine durch elektronische Geräte erschaffene virtuelle Welt eintauchen und dort einen Großteil ihrer Zeit, also ihres Lebens, verbringen? Wer in den Strudel virtueller Welten eintaucht, bekommt ein Gehirn, das zwar für ein virtuelles Leben optimal angepasst ist, mit dem man sich aber im realen Leben nicht mehr zurechtfindet. Der Rest ist einfach: Wer dort angekommen ist, für den ist die Fiktion zur lebendigen Wirklichkeit und das reale Leben zur bloßen Fiktion geworden. Ein solcher Mensch kann in der realen Welt nicht mehr überleben. Natürlich hat die Einführung solcher neuen digitalen Technologien einen Einfluss auf unser Gehirn. Wir wissen seit einigen Jahren, dass die Nervenzellverschaltungen in unserem Gehirn sich immer wieder anpassen an die Art und Weise, wie und wofür man sein Gehirn benutzt. Nutzungsabhängige Neuroplastizität nennt man diesen Anpassungsprozess, den man eigentlich mit einem Satz zusammenfassen kann: So wie man sein Gehirn nutzt, so wird es am Ende auch. Bei Menschen, die sehr viel mit digitalen Medien arbeiten, entsteht automatisch eine Anpassung auf der Ebene des Sehens, das heißt eine sehr starke visuelle Dominanz … Außerdem entwickelt sich eine ausgeprägte motorisch-visuelle Kopplung, das heißt, man sieht etwas und reagiert sehr schnell mit der Hand darauf. Die Reaktionen laufen viel rascher ab, als das früher mit unseren alten Möglichkeiten der Fall war. Die Bilderfolgen in vielen Computerspielen sind außerordentlich beschleunigt, genauso auch die Handlungssequenzen. Das sind ganz neue Anforderungen an das Gehirn, und an diese Anforderungen passt sich unser zentrales Nervensystem an. Das hat zwei große Konsequenzen: Zum einen geht uns der Sinnbezug, der Bezug zur realen Welt, zur Wirklichkeit, stärker verloren. Wenn man den größten Teil seiner Zeit vor solchen computergenerierten Bilderwelten, vor virtuellen Realitäten verbringt, passt man sich auch zunehmend daran an. Der zweite wichtige Aspekt, den man nicht oft genug betonen kann, ist, dass Menschen, die zuviel Zeit vor den Computern verbringen, auch den Bezug zu sich selbst verlieren. Sie spüren ihren eigenen Körper nicht mehr richtig, die eigene innere mentale Kraft geht verloren.»
Bezogen auf Computerspiele, schreibt Hüther: «Eine weitere Konsequenz ist die mangelnde Empfindungsfähigkeit, das bedeutet, sich in andere Menschen einzufühlen, emotionale Befindlichkeiten des Gegenübers zu erkennen und durch angemessene Ausdrucksformen in Gestik oder Mimik in Beziehung zu treten. Um das zu lernen, braucht man reale Menschen, auf die man reagieren kann, die wiederum auf einen selbst reagieren. Wer vorwiegend in Computerwelten lebt und fast alles mittels Computer macht, der wird über kurz oder lang ganz optimal an diese virtuelle Welt angepasst und findet sich dort stetig besser zurecht. Aber er wird dann eben zunehmend Schwierigkeiten haben, sich in der realen Welt wohl und geborgen zu fühlen. Das lässt sich heute schon beobachten. Es gibt Menschen, die sich in der virtuellen Welt eher zu Hause fühlen als in der realen Welt.» [Auszug aus einem Aufsatz von Gerald Hüther, Prof. für Neurobiologie, Universität Göttingen und Mannheim/Heidelberg aus „Infobrief Nr. 25, Dezember 2007“ ©2006 Genossenschaft Zeit-Fragen – www.zeit-fragen.ch / EF / Nr.28 v. 7.7.08]

Zeitschrift Welt-Spirale 07/08 2010